Die zwei Seiten des jüngsten Zinsanstiegs

Angesichts der aktuellen volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie die heftig gestiegene Inflation und die zunehmend restriktiver werdende Geldpolitik seitens der Notenbanken, geht die Mehrheit der Finanzanalysten davon aus, dass wir bereits mitten in einer nachhaltigen Zinswende nach oben stehen. Daher sind sie davon überzeugt, dass sich die Zinssteigerungen der letzten Monate (vgl. Abbildung) fortsetzen werden.

Wenngleich ein solches Szenario zunächst fallende Anleihekurse bedeutet, folgt daraus keineswegs, dass Anleihedepots keine vernünftige Anlage mehr sind. Denn der Zusammenhang zwischen steigenden Zinsen und fallenden Kursen ist nur eine Hälfte der Wahrheit. Die andere Hälfte besteht darin, dass ein Zinsanstieg eben auch bedeutet, dass wir es dann mit einem veränderten Zinsumfeld zu tun haben: Anleihen sind nun nach einer langen Durststrecke ganz grundsätzlich wieder attraktiver geworden und es haben sich insbesondere die Bedingungen für die Wiederanlage freiwerdender Mittel (Zins und Tilgung) spürbar verbessert.

Die höherrentierliche Neuanlage fällig werdender Anleihen (und Zinsen) sowie die dadurch erreichte verbesserte Wertentwicklung wird als „Wiederanlageeffekt“ bezeichnet. Dieser wirkt sich bei steigenden Zinsen in jedem Fall positiv auf ein Anleihedepot aus. In der folgenden Grafik sind die Auswirkungen beider Effekte – negativer Kurseffekt und positiver Wiederanlageeffekt – schematisch zusammengefasst.

Die Botschaft dieser Zusammenhänge sollte klar sein: Es wäre zum jetzigen Zeitpunkt das Falscheste, was man machen kann, aufgrund von teilweise kursierenden Panikmeldungen über weiter kräftig steigende Zinsen das Anleihedepot nun womöglich ganz aufzulösen oder den Anleiheanteil zu reduzieren. Die Durststrecke niedriger bzw. teils sogar negativer Zinsen liegt mit einiger Wahrscheinlichkeit endlich hinter uns. Wer jetzt auf Anleihen verzichtet bzw. mit Kursverlust verkauft, bringt sich gewissermaßen um die Früchte der zinslosen Zeiten der letzten Jahre.

Neben der von uns immer wieder erwähnten Funktion einer Risikostellschraube und eines Sicherheitsankers im Rahmen eines gemischten, aus Aktien und Anleihen bestehenden Portfolios, werden Anleihen unserer Ansicht nach in Zukunft auch wieder einen zwar überschaubaren, aber positiven Renditebeitrag erwirtschaften.

Newsletter vom 22. Juni 2022

Prof. Dr. Stefan May – Leiter Anlagemanagement
Quirin Privatbank AG

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Renditeanstieg weltweit zu beobachten, Quelle Bloomberg, eigene Darstellung